Kritik von Jürgen Weichardt

Gisela Bartels

Kreativität, m.D.u.H., ist eines der Zauberwörter der gegenwärtigen und auch der kommenden Epoche. Kreativität ist gefragt, weil sich manche Probleme nicht mehr auf konventionellem Wege lösen lassen. Kreativität ist die Wurzel eines eigenen subjektiven Wohlbefindens, wenn ihr Geltung verschafft werden kann, nicht zuletzt gegenüber der Gemütlichkeit, deren Polster sich lähmend über jeden Ansatz von Kre-ativität legt.

Wir gehen heute davon aus, das in jedem Menschen eine Kraft vorhanden ist, die Kreativität entfalten kann. Mir scheint nicht richtig, Kreativität als ein unerschlos-senes Ganzes im Menschen schlummern zu sehen. Die Erfahrung lehrt etwas anderes: Sie zeigt, dass Kreativität ein Prozess ist, der sich weiter und weiter entwickelt, sobald der Prozess durch einen Funken in Gang gesetzt worden ist. Es bedarf also des An-stosses, um mit Hilfe des menschlichen Talents Kreativität entstehen zu lassen.
Kreativität tritt auch dann ans Tageslicht, wenn andere Kräfte welch finsterer Mächte überhaupt sie zurückhalten wollen. Kreativität ist dann, wenn sie Raum und Zeit zur Entfaltung hat, die Voraussetzung für den eigenen künstlerischen Weg. Aber um sich ihrer bewußt zu werden und ihre Kraft zu nutzen, bedarf es einer ungeheuren Diszip-lin, eine Kraftanstrengung, an der die meisten menschen scheitern. Kunst kann man nur als Ganzes machen oder gar nicht, Kunst ist kein Feierabend- Tun, sondern eine Tätigkeit, die die Ganzheit von Körper und Geist umfaßt und nur zum Ziel, d.h. zum eigenen Weg führt, wenn sich die Künstlerin oder der Künstler dieser Disziplin un-terwirft. Künstlerinnen und Künstler wissen das, denen sage ich nichts Neues, andere Menschen aber wissen das nicht; denen muß es immer wieder vor Augen geführt werden.

Diesen eigenen Weg finden, ihn aber nicht als etwas Exotisches betrachten, sondern als eine Aussageweise, die andere Menschen verstehen können, ist ein schwieriges Unterfangen für eine Künstlerin oder einen Künstler. Der eigene Weg ist nur dann überzeugend, wenn die Empfindung stimmt, wenn Gefühl die Darstel-lungsweisen dominiert – ein Gefühl, das aus dem Herzen kommt und sich nicht von modischer Haltung beeinflussen läßt.

Ich meine, dass zunächst einmal Gisela Bartels einen eigenen Weg gefunden hat, der sich zwischen dem autarken Ich einer Künstler- Persönlichkeit und einem Publi-kum spannt; denn ihre Bilder sprechen den Betrachter direkt an, ohne dass die Künst-lerin Zugeständnisse an dessen Geschmack gemacht hätte.

Die hier ausgestellten Arbeiten sind seit 1992 geschaffen worden; nur einige wenige Bilder sind älter und fallen wegen ihrer anderen Inhaltlichkeit deutlich heraus.

Die Farbzeichnungen und Bilder entstehen wohl nach einer Grundidee, aber nicht nach einem sorgfältig vorbereiteten Schema. Die spontane Bewegung des Zeichnen verwandelt sich in einen unaufhörlichen Fluß, der erst abgebrochen wird, wenn sich entweder Erschöpfung einstellt oder das Gefühl an Macht gewinnt, daß das Bild fertig sei. Aber in der spontanen Bewegung steckt trotz der Offenheit des An-fangs schon das Ziel, Köpfe zu zeichnen, Tiere oder Blumen. Auch die Linien, die zwischen den Köpfen Raum trennen und Flächen aufteilen, sind als Linien begonnen worden und nicht abgebrochene Versuche, neue Köpfe zu finden.

Die Künstlerin beginnt also spontan, sie horcht auf ihr Inneres, sucht der Stim-mung empfindsam näherzukommen, die sie in diesem Augenblick beherrscht, um sie in Bildmaterialien erkennbar zu machen. Die große weiße Fläche vor ihr fordert zum Besetzen auf, zu Linien, die sich auf ihr ausbreiten, Richtungen andeuten, Richtungen wechseln, bis die Bewegung der zeichnenden Hand abbricht und irgendwo – aber jetzt doch kompositionell abhängig von der ersten Linie neu ansetzt. Die Bilder entstehen mehr als andere in einem Arbeitsprozess, der in seinem Ablauf zwar nicht nachvoll-zogen werden kann, der aber als Ganzheit sichtbar bleibt.
Die Bilder entwickeln sich aus den einfachen Bildmitteln, die Gisela Bartels bevorzugt, also aus Linien, einfachen Strichen, ihren Bewegungen, Kurven und schließlich ihren festen Positionierungen zu Gesichtern, enface oder im Profil – Gisela Bartels nutzt alle Möglichkeiten, Gesichter zu zeichnen.

Der Kanon der Linienführungen wird erweitert um alle Variationen der Ver-dichtung, der Parallelen, Schraffuren, Kreisen, Spiralen, Labyrinthe in der Führung von Linien, wobei diesen Häufungen inhaltliche Bedeutung gegeben werden kann – zum Beispiel Frisuren, Blüten, Blätter usf., aber auch abstrakte Zusammenhänge zwi-schen und hinter den Köpfen können aus diesen Lineamenten entstehen, sogar Orna-mentformen, die in den neunziger Jahren – im Zeitalter der Postmoderne – ihren Schrecken verloren haben.
Das Gefüge aus Köpfen und Gesichtern wird mit Farben unterlegt, wobei Gise-la Bartels zweifellos Lieblingsfarben bevorzugt wie das frühlingshafte Grün, das mit etwas Gelb verbunden wird, das weiche Blau, während Rottöne viel seltener anzutref-fen sind, eher in der Nachbarschaft zu Grün der Orange- Ton, womit die Blätter auch leichte Kontrastierungen enthalten. Diese sind zwangsläufig, denn auch die Gesichter haben unterschiedlichen Ausdrucksweisen.

Um den Arbeiten gerecht zu werden, ist es notwendig, einige ästhetische Begriffe auf sie anzuwenden, denn das bildnerische Denken Gisela Bartels‘ wird von einigen äs-thetischen Basisbegriffen bestimmt wie z.B. vom Begriff des Raumes: Zunächst fällt auf, daß die Künstlerin auf die Darstellung eines wie auch immer gearteten Raumes verzichtet. Das war nicht immer so: Noch in den ältesten hier ausgestellten Land-schaftsbildern ist Raum durch die Baumreihen gegeben. Landschaft verbindet sich in unseren Augen immer mit Raum. Dann aber gibt die Künstlerin den perspektivisch – klassischen Raum auf. Das erlaubt ihr, auch in den Bildern lange Zeit auf ein Unten und Oben zu verzichten. Ich weiß nicht, ob sie es tut – aber sie kann nun ihre Bilder drehen und wenden, wie sie will; das Dargestellte ergibt sich in der Fläche, auf der Ebene des Papiers und nicht mehr in einem Illusionsraum.
Doch zwischen den Köpfen, an den Köpfen ist Raum durchaus vorhanden, dann, wenn diese nicht nur linear umfahren, sondern plastisch herausgearbeitet scheinen. Plastizität – auch wenn sie allein mit Farben hervorgerufen wird, ist Raumdarstellung. Nicht zuletzt dann, wenn sich zwei und mehrere Köpfe auf einander Bezug nehmen, korrespondieren, auf einander zu reagieren scheinen.

Bei der Darstellung der Beziehung zwischen Fläche und Raum in diesen Bil-dern darf die Weite des Weiß als Grundfläche nicht übersehen werden. Das Weiß um-rahmt gleichsam die Farbzeichnung, es gibt ihr eine Basis, die – das ist anders als im konventionellen Bild – nicht unten auf dem Rahmen aufliegt, sondern gleichsam ver-tikal in die Blatt- Tiefe hineinreicht.

In den Arbeiten dieser Ausstellung fällt bei Fragen des Raumes auch auf, dass sie sich der Architektur anpassen. Natürlich kannte die Künstlerin die Maße und konnte die Bildgründe entsprechend vorbereiten. Dass das aber möglich war, zeigt die Offenheit, die Flexibilität der Kunst von Gisela Bartels. Selten kommen Zeichnung und Architektur zusammen – hier haben Sie ein Beispiel. Und die Künstlerin geht noch einen Schritt weiter, indem sie auch die Farben der Architektur aufnimmt. Sie werden als Anregung für eigene Variationen oder Kompositionen genommen.
In einigen wenigen Fällen dient Schrift als ein Mittel der erbindung oder Trennung von Formen. An sich fällt auf, dass die Künstlerin zwar Signatur und Monatsdatum in die Komposition mit einbezieht und dabei das Unten eines Bildes fetlegt; aber sie gibt den Bildern keinen Titel, abgesehen von wenigen Ausnahmen. Dass bedeutet, dass sie Wert auf das Erfassen der Stimmung legt, aber keine inhaltlichen Zusammenhänge herausstellen will, die die allgemeine Offenheit der Bilder einschränken könnten.
Auf diese Bilder lassen sich noch einige andere Begriffe aus der Ästhetik anwenden, z.B. Musikalität. Können wir die Gesamtkomposition mit dem Begriff „Klang“ be-zeichnen, so wird diese selbst unterteilt in Erscheinungen wie Rhythmus, Ablauf oder wie Umschreibungen der Farben wie laut und leise. Klang ist das Zusammenwirken von mehreren Tönen wie in den Bildern von Lineamenten und Farben, die zusammen einen Eindruck provozieren. Dieser Eindruck mag bei mehreren Menschen verschie-den sein; es kommt nur auf die Tatsache an, dass der Klang einen Eindruck hinterläßt, der an Hand der Details dann doch als fröhlich, heiter oder melancholisch gewertet werden kann.

Der Rhythmus der Bilder wird von den Größen der Details bestimmt. Sie vari-ieren natürlich in jedem Werk, aber sie haben doch eine gewisse Annäherung anei-nander, wodurch die Wiederkehr von Ähnlichkeiten, die einen Rhythmus bestimmen, entsteht. Gisela Bartels‘ Bilder sind ungewöhnlich rhythmisch und musikalisch, und gerade die Offenheit der Konturen der Gesamtkomposition verstärkt diesen Eindruck, dass es auch um einen musikalischen Eindruck geht. Dazu gehört das Neben- und das Gegeneinander, gehören Gleichklang und Kontraste. Die Künstlerin arbeitet die Kon-traste nicht heraus, sie bevorzugt eine mildere Form der Zusammenstellung; dennoch sind diese Gegensätze im Ausdruck der Gesichter und in der Verwendung einzelner Farben vorhanden. Damit wird das Musikalische unterstrichen, auch von der konsti-tuierenden Kompositionsweise des fortlaufenden nahezu unaufhörlichen Begegnen mit ähnlichen Formen des Gesichtes oder Kopfes. Diese Kontinuität ist ein Element der Musik, ein zeitumfassendes Element, das so unmittelbar in der bildenden Kunst nicht ausgedrückt wird.

Die Vorstellung, dass die Darstellung eine Kontinuität enthält, wie ich sie ange-deutet habe, bringt zwangsläufig den Begriff „Zeit“ ins Spiel. Auch hier ist die einzel-ne Linie, sind die entstehenden Formen, sind die Gesichter unmittelbar Ausschnitte der Lebens- und Arbeitszeit der Künstlerin, aber darüber hinaus sichtbare Intervalle einer Zeitvorstellung, die den gesamten Arbeitsprozess als Ausdruck von Werden und Entwicklung versteht. Dieser Zeitbegriff hat einen Zug zum Ende, seine Endlichkeit macht die Vorstellung von Zeit überhaupt erst aus – das ist das Charakteristische eines allgemeinen Zeitbegriffs.

Aber wir sollten uns bei den Arbeiten von Gisela Bartels nicht in den allgemei-nen ästhetischen Begriffen verlieren. Ihre Zeichnungen sind frei von modischen Ten-denzen. Sie sind Ergebnisse eines leidenschaftlichen Bemühens um Form, wie wir das nur von wenigen Künstlerinnen und Künstlern kennen. Dabei wird das Innere nach außen gekehrt. Diese Spannung kann sich auf den Betrachter übertragen.
Ich habe angedeutet, dass die Bilder inhaltlich ganz offen gehalten sind, dass sich ein Inhalt, abgesehen von der Formung und Ausprägung der Details nicht als ein formu-lierbarer Begriff einstellen soll. Diese Offenheit ist nicht nur Ausdruck der eigenen Welt, aus der heraus die Ideen und Einfälle dieser Zeichnungen kommen, sondern auch Sinnbild für die Art alltäglicher Kommunikation. Ich hatte mit dem Begriff der Kreativität begonnen, und komme zum Schluß auf den Begriff Kommunikation, der sich aus diesen Arbeiten definieren läßt.

Die Kompositionen selbst sind ein unaufhörliches Fabulieren, ein Erzählen über Formen und ihren Möglichkeiten, zueinander Verbindung aufzunehmen, was Kommunikation bedeutet. Darunter ist auch Austausch zu verstehen, denn zwischen den Details wird gegeben und genommen. Darunter ist auch Verwandlung zu verste-hen, der das einzelne Detail permanent unterworfen wird.
Gisela Bartels hat, wie diese Ausstellung zeigt, in einer bewundernswerten Kraftan-strengung ein großes Oeuvre voller Vielgestaltigkeit, Musikalität und Rhythmus ge-schaffen, das aus kleinzelliger Zusammensetzung die Vielfalt der menschlichen Ge-sellschaft vor Augen führt.

Jürgen Weichardt
2009

.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.